Das Tägermoos als ›Fallbeispiel‹ / Lutz Krause
Als am 3. Feb. dieses Jahres mit der Fällung der Pappelallee im Tägermoos begonnen wurde, ahnten wohl nur wenige, dass damit ein ›nachhaltiger‹ Bürgerprotest begann. In der Folge warf die Maßnahme Fragen grundsätzlicher Art auf, die sich für die Stadt als Ganzes stellen: Gibt es eine Abwägung natür-lichen zu zivilisationsgeschaffener Gefahren? Wie definieren wir ›Natur‹? Wie hält es die Stadt mit Mitsprache und Bürgerbeteiligung?
Tägermoos 2015 – Die Chronik
2009 erscheint im Auftrag der Stadt Konstanz eine
›Machbarkeitsstudie zur Entwicklung von Auenwäldern im Gewann Tägermoos‹ durch den AGBU. Diese Studie beschreibt einen Entwurf, die bestehende Allee der kanadischen Hybridpappeln innerhalb der nächsten fünf Jahre zu fällen und stattdessen einen Auenwald als nachzeiteiszeitlichen Urzustand der Bodenseelandschaft zu rekonstruieren. Diese Idee war den Umwelt- verbänden seit 2009 also bekannt. 2011 erscheint von der Gemeinde Tägerwilen eine weitere Studie: ›Schutz, Pflege- und Gestaltungskonzepte für Thurgauer Naturschutzgebiete – Espen Ried bei Ziegelhof am Seerhein‹. Diese empfiehlt, die Pappelallee entlang des Uferwegs Ziegelhof-Chuehorn zu belassen und nur Eingriffe zugunsten der Sicherheit vorzunehmen.
___ Mitte Dez. 2014 informiert die Stadtverwaltung durch den Südkurier in wenigen Zeilen darüber, dass sie 116 Pappeln im Tägermoos in zwei Abschnitten zu fällen beabsichtigt. Bei einer Ortsbegehung wenige Tage darauf zeichnen sich erste Proteste von Bürgern ab. An der Gemeinderatssitzung Ende Januar melden sich Einzelne in der Bürgerfragestunde zum Thema Tägermoos. Oberbürgermeister Burchardt bügelt ab:
„Ein unbedeutender Eingriff, von dem in wenigen Jahren nichts mehr zu sehen sein wird…“ Er stellt klar: Das Thema komme zwar in den Umweltausschuss, aber nur zur Information. Gefällt werde sowieso. Kurz darauf wird die Petition „Gegen den Kahlschlag am Seerhein“ gestartet, die innerhalb weniger Tage 400 Menschen unterschreiben (Zwischenstand Ende April 2015 über 3500 Unterschriften), sowie die Webseite taegermoosallee.weebly.com, um Stellungnahmen, Gut- achten, Medienberichte zu bündeln und zu kommentieren.
___ Die FGL stellt einen Eilantrag: Fällarbeiten aussetzen bis zum TUA im Februar. Die Bürgerinitiative gegen die Fällung der Bäume am Seerhein gründet sich. Rechtsanwalt Martin Luithle wird beauftragt, beim Verwaltungsgericht Freiburg Antrag auf Einstweilige Anordnung auf Fällstop zu stellen. Er beginnt sofort mit der Arbeit. Am 3. Feb. kreischen im Tägermoos die Kettensägen: Die ersten Bäume liegen. RA Luithle for- dert von OB Burchardt: 1. Fällstopp und 2. Akteneinsicht. Wo sind die Gutachten, die zeigen, dass die Bäume gefällt werden müssen? Auch die SPD fordert OB Burchardt auf, die Baumfällarbeiten umgehend zu stoppen. Der Kahlschlag geht weiter. Mitglieder der BI wollen die Arbeiten verzögern, indem sie die Fällgenehmigung zu sehen verlangen. Es gibt keine. Henning Hülsmeier von der Bürgerinitiative stellt Strafantrag gegen Oberbürgermeister Burchardt wegen Fällens ohne schriftlicher Genehmigung. Wie sich später her- ausstellt, gibt es eine Aktennotiz (›konferenzielle Einigung‹), die diese ersetzen sollte; ob dem so ist, wurde von der Staatsanwaltschaft in Kreuzlingen noch nicht entschieden. Am 6. Feb. reicht RA Luithle den Antrag auf einstweilige Anordnung beim Verwaltungsgericht in Freiburg ein. Noch am gleichen Tag wird dieser abgelehnt, aus formalen Gründen. Unter anderem bezieht sich das Gericht in seiner Begründung auf die gemeinsame Erklärung von BUND/Nabu. Dort heißt es, die Pappeln hätten ihr „Altersstadium erreicht“, der Totholzanteil sei „überproportional angestiegen“. Zudem lägen „wertvolle Gutachten“ vor – von der Stadt beauftragt und daher vermutlich auch befolgt. Die Rede ist von der Auenwald-Machbarkeitsstudie der Bodensee-Stiftung AGBU. Ein eigentliches Gutachten über den Zustand der Alleebäume lag nicht vor (vgl. Kreuzlinger Zeitung, 27.02.2015). Damit hatte nun nicht nur das städtische Umwelt- und Planungsamt ein Problem. Die Naturschutzverbände sahen sich plötzlich in der Mitverantwortung für einen der größten Naturfrevel der letzten Jahrzehnte im Stadtgebiet. Diese hatten die Aussagen der Stadt ungeprüft übernommen, das Freiburger Gericht hatte sich wiederum auf diese Stellungnahme berufen.
___ Am 8. Feb. demonstrieren etwa 180 Menschen im Tägermoos bei sibirischer Kälte gegen die Fällungen. Mit dabei: Der SWR, der vormittags schon die Fäll- arbeiten gefilmt hatte. Von nun an berichten deutsche und schweizer Medien regelmäßig zum Thema Tägermoos. RA Luithle ist es gelungen, zwanzig Stadträte zu überzeugen, sich offen gegen das Vorgehen der Stadtverwaltung zu positionieren: Sie stellen einen Antrag auf einstweilige Anordnung auf Fällstopp beim Verwaltungsgericht in Freiburg. Vier Stunden nach Einreichung des Eilantrags lässt Oberbürgermeister Burchardt die Fällungen vorläufig stoppen. Offizielle Begründung: Das Gericht soll in Ruhe entscheiden können. Die beiden Klagen und der anhaltende Prostest haben nun genügend Druck aufgebaut. Im Tägermoos liegen 41 Bäume, grundlos gefällt und unwiederbringlich verloren, OB Burchardt räumt „Kommunikationsfehler“ in Sachen Tägermoos ein.
___ In der Folge beauftragt die Fondation Franz Weber aus der Schweiz einen Baumspezialisten. Die gefällten Bäume sowie die restliche Allee sollen begutachtet werden. Fabian Dietrich aus Bern stellt fest: Die Allee-Bäume sind und waren alle gesund und vital und sind im Verhältnis zu ihrer möglichen Lebensdauer von 300 Jahren mit etwa 65 Jahren noch jung; keine einzige Pappel hätte gefällt werden dürfen; mit geringem Aufwand hätte die Verkehrssicherheit erhalten bleiben können.
___ Am 24. Feb. beschließt eine breite Mehrheit der Stadträte im TUA, noch keinen Entscheid zur Wiederaufforstung zu treffen. Erst nach einer breit geführten Diskussion mit Bürgerbeteiligung soll eine neue Vorlage erarbeitet werden, die dann im Umweltausschuss diskutiert und im Gemeinderat abschließend am 23. Juli 2015 entschieden werden soll. Zuvor soll ein öffentlicher Workshop zum Thema ›Vorgehen im Tägermoos‹ zur Meinungsbildung abgehalten werden.
Sicherheitsillusion durch Beseitigung der Natur?
Wenn Bäume in der Stadt gefällt werden, wird fast immer die kommunale Verkehrssicherungspflicht als Argument angeführt. Für jeden Einzelfall lassen sich hierbei umfängliche, fachliche Begründungen finden, um einen Baum vorsorglich zu beseitigen. Die Möglichkeit, dass ein Ast herabfällt, Personen oder gar ein Fahrzeug geschädigt wird oder bei ungünstiger Wetterlage ein ganzer Baum umstürzt, lässt schnell die Totalbeseitigung dieser möglichen Gefahrenquelle zu. Die ›Sachargumente‹ der Verwaltung bewegen sich fast immer auf der Grundlage von Angst und Sorge und einer ›Defizit-Fokusierung‹, die in jedem Baum eine potentielle Gefahr sieht. Diese trifft auf die emotional positive Grundhaltung einer breiten Mehrheit, die in Bäumen und der Natur allgemein eine Bereicherung sieht – der Konflikt ist vorhersehbar und wiederkehrend.
Schaut man sich die statistische Wahrscheinlichkeit an, setzt man also die Zahl der Unfälle durch Bäume in einen Zusammenhang mit anderen Gefahren, wird klar: Hier gelten zwei völlig verschiedene Maßstäbe. Während man den möglichen Gefahren, welche aus der Natur entspringen, mit ›null Toleranz‹ begegnet, ist man bei zivilisationsbedingten Gefahren deutlich großzügiger. Würden die Maßstäbe der Totalbeseitigung einer möglichen Gefahrenquelle auf andere Lebensbereiche angelegt und übertragen, so wäre man sich der Absurdität dieses Unterfangens einig: Zunächst müssten alle Häuser zugesperrt werden, da sich hier die meisten Unfälle ereignen. Als nächstes Straßen, Skipisten und sonstige Sportstätten sowie die unfallgefährdeten Arbeitsplätze. Nicht zuletzt müssten, gemessen an Risiko und Schädigungsmöglichkeit, alle Kultur- und Vergnügungsereignisse wie Oktoberfest oder die Konstanzer Fasnacht abgeschafft werden. Die Menschen dürften sich nur noch im Wald aufhalten, denn dort ist es – trotz einer nicht geltenden Verkehrs- sicherungspflicht – statistisch deutlich sicherer als im zivilisatorischem Lebensumfeld. Es scheint, dass in Zeiten allgemeiner Unsicherheit die Beseitigung oder zumindest Eindämmung von ›unberechenbarer‹ Natur als Ersatzhandlung dient, die von uns selbst geschaffenen Zivilisationsrisiken auszugleichen. Für Soziologen und Psychologen zeigt sich hier ein interessantes Forschungsfeld einer kompensatorischen Handlung, um eine Sicherheitsillusion zu konstruieren. Jedoch mehren sich Gerichtsurteile, die Schäden durch herabfallende Äste als ›hinnehmbares Lebensrisiko‹ einstufen. So entschied der Bundesgerichtshof 2014: ›Ein natürlicher Astbruch, für den vorher keine besonderen Anzeichen bestanden haben, gehört auch bei hier- für anfälligeren Baumarten grundsätzlich zu den naturgebundenen und daher hinzunehmenden Lebens- risiken. Eine straßenverkehrssicherungspflichtige Gemeinde muss daher bei gesunden Straßenbäumen auch dann keine besonderen Schutzmaßnahmen ergreifen, wenn bei diesen – wie z. B. bei der Pappel oder bei anderen Weichhölzern – ein erhöhtes Risiko besteht, dass im gesunden Zustand Äste abbrechen und Schäden verursacht werden können (BGH, Urteil vom 6. März 2014 – III ZR 352/13).
Was wir brauchen, ist eine Debatte über die grundsätzliche Frage, wie viel natürliche Gefahren wir bereit sind, in unserem Lebensumfeld auf uns zu nehmen und eine Neubewertung der Risikolage, welche diese in ein angemessenes Verhältnis setzt zu dem zivilisatorischen Gefahrenpotential.
Pappelallee vs. Auenwald: Wie definieren wir Natur?
Die Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht im Tägermoos sahen die Verantwortlichen im städtischen Umwelt- und Planungsamt mit Kosten verbunden und waren nicht bereit, diese künftig weiter zu tragen. Die Idee eines Auenwaldes, in der Machbarkeitsstudie von 2009 erwähnt und von Schweizer Seite ebenfalls erwünscht, schien daher als geeignetes Argument, auch von den deutschen Umweltschutzverbänden ein OK für die Fällung der Allee zu erhalten. In der gemeinsamen Presseerklärung vom 3. Feb. 2015, verfasst von BUND und NABU, liest sich das so: ›Unstrittig ist, dass zugunsten des langfristigen Erhalts in den nächsten Jahren ein Umbau der Allee erfolgen muss, da diese überaltert und die Verkehrssicherheit nur schwer und unter enormen Kosten aufrecht zu erhalten ist. Zweifelhaft ist jedoch das massive Vorgehen, bereits in einem ersten Maßnahmenabschnitt fast die Hälfte der Bäume auf einmal zu fällen, wie dies im Moment geschieht‹. Der zarte Protest bezog sich hier nur auf das knappe Zeitfenster der Maßnahme, stellte diese jedoch grundsätzlich nicht in Frage. Bereits in einer gemeinsamen Stellungnahme vom 21. Januar 2015 ist zu lesen: ›Da die vorhandenen Hybridpappeln der Allee ihr Altersstadium erreicht haben und somit der Totholzanteil überproportional ansteigt, ist es nun an der Zeit ein neues Konzept zu verfolgen und zeitnah mit der Umsetzung zu beginnen‹. Das ›neue Konzept‹ meint die Idee eines Auwaldes, der nach Meinung der dt. Umweltverbände ökologisch wertvoller anzusehen ist als eine Allee, die zudem noch aus ›fremden‹ und angeblich nicht angepassten Hybrid-Pappeln besteht.
Dies wirft eine grundsätzliche Fragen auf: Wie definie- ren wir heute Natur? Wenn man der Frage nachgeht, wird klar: All dies, was wir heute als Natur ansehen, ist geprägt von menschlichen Eingriffen. Würden im Wollmatinger Ried, diesem Naturschutzgebiet von europäischem Rang und Schutzstufe, nicht regelmäßig Feuchtwiesen gemäht, Buschwerk und bestimmte unerwünschte Baumsorten entfernt, das Gebiet würde sich völlig anders entwickeln. Selbst wenn die Natur sich selbst überlassen wird, entwickelt sich diese zunächst auf Grundlage der vorherigen Kultivierung. Es macht daher wenig Sinn, zwei verschiedene Naturformen gegeneinander abzuwägen und auszuspielen. Anders gesagt: Eine völlig intakte Allee zu beseitigen, um einen bestimmten erdgeschichtlichen Zustand, den wir aus unserer heutigen Sicht als bedeutsam einstufen, zu rekonstruieren, wäre so, als wollte man das Konstanzer Münster abreißen, um das darunterliegende Römerkastell wieder sichtbar zu machen.
Die Umweltverbände haben sich zunehmend einer wissenschaftlich ›korrekten‹ Detailfokussierung zugewendet, sie erstellen Exeltabellen mit ökologischem Arten-Ranking und Kartierungen des Bodenseevergissmeinnicht. Das mag manchmal richtig sein, um im politischen Diskurs glaubhaft zu wirken, jedoch scheint dabei – wie bei der akademischen Naturwissenschaft so häufig – der Blick auf das Ganze verloren gegangen. Ein Naturschutz-Reduktionismus, der nicht dieses Ganze wahrnimmt, sondern nur spezifische Einzelaspekte, versteht die Tägermoos-Allee daher auch nicht als einen wertvollen Begegnungs- raum von Natur und Mensch. In Konstanz sind Orte, die zwischen naturnahen Gegebenheiten und menschlichem Erholungsbedürfnis eine Balance bilden, rar geworden. Im Naherholungsgebiet des Loretto- und Mainauwald mit ihren ›Einflugschneisen‹ für Vollernter und dem ›radpanzer-gerechten‹ Wegenetz muss man lange nach ›Zonen‹ suchen, die frei sind von hocheffizienter menschlicher Nutzungsabsicht – und das Wollmatinger Ried lässt als Naturmuseum ein absichtsloses Verweilen kaum zu. Es gilt daher, diesen speziellen Begegnungsräumen, wie sie in Staad etwa mit der ›Hohenegg‹ vorhanden sind, die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken und diese unter Schutz zu stellen wie reine Naturschutzgebiete.
Kommunikationsprobleme mit dem ›lästigen Bürger‹
Die Fehleinschätzung der Umweltverbände betreff Vitalität, Lebenserwartung und Gefährdungspotenzial deckte sich mit jener von Stadtverwaltung und ihrer Führung.
Noch kurz vor Beginn der Fällarbeiten sprach der OB, ein gelernter Forstwirt, von „einem unbedeutenden Eingriff, von dem in wenigen Jahren nichts mehr zu sehen sein wird…“ Einmischungen verbat er sich mit dem Hinweis, dies sei eine reine Verwaltungsangelegenheit. Die Wahlslogans von 2012, welche um Begriffe wie ›Nachhaltigkeit‹ und ›Bürgerbeteiligung‹ kreisten, erfuhren ihren ersten großen Testfall.
Wer an der Macht ist, entwickelt rasch ein Sensorium für Stimmungen und Mehrheiten. Erst als der Bürgerprotest eine für die Mandatsträger kritische Masse erreichte, erließ der OB den Fällstop. Da waren jedoch bereits 41 völlig gesunde Baumriesen unwiederbringlich verloren. Nun wurde die Devise ausgegeben, es handle sich bei der Sache um ›ein bedauerliches Kommunikationsproblem‹. Übersetzt heißt dies: ›Wir haben alles völlig richtig gemacht, die Bürger verstehen es nur nicht‹. Geht es also nur um die Verkündigung bereits ›gefällter‹ Entscheidungen, und das Problem liegt allenfalls bei einer wenig erfolgreichen Marketing- Strategie? Jedoch: Auch die Bürger haben ein Sensorium. Vertrauen in die Organe beginnt dort, wo Bürger ihr direktes Lebensumfeld haben. Ob es die Verwaltung und die Mandatsträger ernst meinen mit einer Beteiligung an kommunalen Themen oder diese nur vorschieben zur Durchsetzung von bereits getroffenen Zielvorstellungen, wird durchaus realisiert. Auf dieser Ebene entsteht Vertrauen – oder eben nicht. Wenn Vertrauen bereits auf kommunaler Ebene nicht gegeben ist, wie sollte sie bis in das ferne Brüssel gelangen? Sind sich unsere kommunalen Mandatsträger bewusst, dass ihr Politikstil Auswirkungen hat weit über die Stadt hinaus – und die politischen Kultur als Ganzes prägen?
Die Definition von Bürgerbeteiligung scheint nach wie vor: Wir hören gerne zu, Entscheidungen werden jedoch von uns getroffen. Begründet wir dies mit der Verantwortung, die nach Meinung der Mandatsträger ja in letzter Konsequenz von ihnen und nicht von den Bürgern getragen wird. Zudem sieht sich die Verwaltung als diejenige Institution, die weiter blickt und denkt als der Bürger mit seinem vorgetragenen Partikularinteresse.
Im Falle der Tägermoosallee lässt sich jedoch feststellen: Wären Bürger aus einem intuitiv richtigen Impuls her- aus nicht derart aktiv geworden, hätte die getroffene Einschätzung von Stadt und Verbänden für die gesamten Allee das schnelle Ende bedeutet. Die Verwaltung operierte und entschied innerhalb der TBK-üblichen Betrachtungsweise, die seit Jahren und bereits bei geringerem Ausmaß wegen ihrer technokratischen Ausrichtung immer wieder Anlass zur Kritik bietet. Eine externe Zweitmeinung wurde von der Stadt nicht eingeholt – obwohl klar ist, dass auch hier unterschiedliche fachliche Ansichten die Regel und einheitliche Meinungen die Ausnahme sind. Die protestierenden Bürger erwiesen sich als bestens informiert und fähig, innerhalb kurzer Zeit eine belastbare Expertise auf den Tisch zu legen. Fabian Dietrich aus Bern widerlegte alle Argumente der Baumfällung. Die Naturschutzverbände auf deutscher Seite ruderten zurück, die Stadtver- waltung räumte zunächst ein: «Eine Gegendarstellung wird es von uns nicht geben, denn viele unserer Positionen decken sich mit denen Dietrichs» (Kreuzlinger Zeitung, 27.02.2015).
Wenn Fehleinschätzungen wie im Tägermoos getroffen werden von Institutionen, denen wir die städtische Natur anvertrauen, muss gefragt werden, ob auch andere Massnahmen in der Stadt hiervon betroffen sind. Auch die Vorbildfunktion der städtischen Verwaltungsorgane ist beschädigt: Nun fragen Bürger, warum ihnen verwehrt wird, einen unliebsamen Baum im eigenen Garten zu fällen, während die Stadt dies nach Belieben tun oder lassen kann.
Der Fall macht klar: Weitsicht und Verantwortung ist nicht automatisch bei den von uns gewählten Repräsen- taten angesiedelt, im Gegenteil. Es braucht den ›lästigen Bürger‹, um den Blick auf Dinge zu lenken, die dem politischen Alltagsgeschäft allzu leicht entgehen, verstellt sind oder als ›alternativlose‹ Sachzwänge abgelegt werden. Im Tägermoos zeigt sich die Bedeutung des Souverän als Korrektiv der Entscheidungen von Politik und Verwaltung.
Chronik mit freundlicher Unterstützung von Christine Zureich
Die Forderungen der Bürgerinitiative:
• Vollständiger Fällstopp für die restliche Allee
• Wiederaufforstung der Allee in gleicher Länge und Dichte
www.taegermoosallee.weebly.com/ www. petitionen 24 .com/ kein_ kahlschlag_ am_ seerhein
Link zum kompletten Artikel (pdf ~ 400KB)