Gedanken eines Turmwächters / Wolfgang Brückner

Konstanz von oben betrachten: da denken sicher die meisten Konstanzerinnen und Konstanzer an den Turm des Konstanzer Münsters. Daneben gibt es aber eine weitere, exquisite Möglichkeit mit durchaus anderen Aus- und Einblicken: Der Turm der Konstanzer Jugendherberge, der frühere Konstanzer Wasserturm. Das Wort „exquisit“ ist bewusst gewählt, ist der Jugendherbergsturm doch nur sechs Mal im Jahr der Öffentlichkeit zugänglich, immer in ungeraden Monaten am ersten Sonntag, jeweils zwischen 11.00 und 16.00 Uhr (im Jahre 2015 also noch am 3. Mai, 5. Juli, 6. September und 1. November).

Ein älterer Besucher hat mir bei der letzten Öffnung am 1. März erzählt, dass in der Zeit seiner Kindheit im Erdgeschoss des Turmes ein Drehkreuz installiert war, das erst nach dem Einwerfen des Eintrittsgeldes passiert werden konnte. Heutzutage ist der Eintritt kostenfrei!

Die Bürgervereinigung Allmannsdorf-Staad hat sich gegenüber Stadt Konstanz und dem Jugendherbergswerk bereit erklärt, eine Turmaufsicht zu organisieren. In der Regel teilen sich zwei Mitglieder der BAS diese Zeit. Wahrscheinlich glauben Sie es mir: zweieinhalb Stunden im Januar kommen einem Turmwächter deutlich länger vor als die gleiche Zeit im Juli!

Zwar müssen die zahlreichen Stufen erst bewältigt werden, aber der Ausblick von oben lässt die Mühen des Aufstiegs rasch vergessen. Wenn der Herzschlag sich nach dem Aufstieg normalisiert hat, kehrt Ruhe ein. Als Turmwächter hat man Zeit und kann den Blick ausgiebig in die Ferne schweifen lassen. Es gibt immer wieder Neues zu entdecken. Welche Farbe hat der Bodensee? Er präsentiert sich in sehr unterschiedlicher Weise: von einem strahlenden Blau über ein Grün bis zu einem traurigen Grau. Sind Säntis, Altmann & Co sichtbar, mit Fantasie erkennbar oder völlig verhüllt? Reicht die Sicht bis zu den Österreichischen Alpen? Es gibt Turmaufsichten, bei denen man nicht einmal bis zur Stadtmitte von Konstanz sehen kann…

Sozusagen die Mindestausstattung an Schiffen auf dem See sind die Fähren nach Meersburg und der Katamaran nach Friedrichshafen, die unentwegt ihre Bahn ziehen und von der Turmplattform aus wie Teile einer Modelleisenbahn-Landschaft wirken. An einem sonnigen Turmöffnungstag im Sommer oder Frühherbst sind die Segelschiffe, Motorboote und Surfer nicht zu zählen.

Nicht nur das Wasser zeigt sich in großer Farbenvielfalt: auch die Natur bietet immer neue Variationen: an einem düsteren Januarsonntag ist es am besten, wenn Schnee gnädig das Braungrau verhüllt. Am 1. März diesen Jahres zeigte die Natur noch keine Anzeichen des nahenden Frühlings. Im Mai, Juli und September können sich die Turmbesucher an einer großen Farbenpracht erfreuen. Felder und Wälder, Kultur- und Naturlandschaft: von der Turmspitze sieht alles sehr harmonisch aus. Umweltverschmutzung, Siedlungsdruck, Artensterben: von „oben“ scheint Frieden und Harmonie zu herrschen: man steht „über den Dingen“.

Ich will damit aber nicht für einen Turmbesuch als Ausflug in eine heile Welt werben! Ein Kontrapunkt zum geschäftigen Treiben des Alltags ist ein Turmbesuch jedoch schon.
Überraschungen bietet an jedem Turmöffnungstag die Sonne. Besonders faszinierend ist ein bewölkter Himmel, an dem die Sonne immer wieder eine kleine Lücke findet und wechselnde Punkte bescheint. Am 1. März schien z.B. für einige Minuten die Sonne nur auf das Kloster Birnau; ein dichtes Wolkenband absorbierte die Sonne von der ganzen Umgebung.

Hier ist nicht der Platz für eine Kulturgeschichte des Turmes, aber einige Gedanken dazu ohne Anspruch auf Vollständigkeit müssen schon sein:

  • Türme haben die Menschheit zu allen Zeiten fasziniert. In der biblischen Erzählung vom Turmbau zu Babel endet das menschliche Streben in Chaos.
  • Ob Kirchturm, Synagogenturm, Minarett, Pagode oder Stupa: offenbar nimmt im Bau eines Turmes der Wunsch des Menschen Gestalt an, etwas Über-den-Tag-hinaus-Bestehendes zu schaffen.
  • Eine Turmbesteigung wird als faszinierend und als Abenteuer erlebt. Wer das nicht glaubt, möge einmal den Schiefen Turm von Pisa besteigen! Weniger spektakulär, aber immer noch eindrucksvoll genug und leichter erreichbar sind die Türme des Freiburger oder auch des Ulmer Münsters.
  • In früheren Zeiten boten Leuchttürme Seefahrern Orientierung, heutzutage will z.B. die Region Bodensee Leuchtturm im Klimaschutz sein, d.h. sich im Klimaschutz besonders engagieren.
  • Im Märchen ließ Rapunzel ihr Haar von einem Turm herunter.
  • Im Schachspiel ist der Turm eine wichtige Spielfigur.
  • Für literarisch Interessierte: Uwe Tellkamp veröffentlichte im Jahr 2008 ein lesenswertes Buch über die Spätzeit der DDR: „Der Turm“

Wer wissen möchte, wie viele Stufen zur Turmspitze führen, ist herzlich eingeladen, an einem der nächsten Öffnungstage den Turm zu besteigen und die Stufen selbst zu zählen! Nur eine Zahl sei verraten: Die Aussichtsplattform mit freiem Blick nach allen Seiten befindet sich 100 Meter und 66 Zentimeter über dem Niveau des Bodensees!

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